Seka ist eine andere

Mina Hava erzählt in ihrem beeindruckenden Debütroman eine bosnisch-schweizerische Familien­geschichte – und vom Nachwirken der Jugoslawien­kriege.

Von Daniel Graf (Text) und Annick Ramp (Bilder), 17.05.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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«Das, was ich erzählen will, das steht im Buch»: Mina Hava.

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Weil sich dieser Roman recht gut selbst einführt, beginnen wir einfach mit dem ersten Satz:

Als die Gräber rund um Omarska ausgehoben wurden und die ersten Prozess­berichte in den Zeitungen zu lesen waren, lernte Seka südlich der Jurakette in einer Schwimmhalle mit grosser Rutsche, die in weitem Bogen nach draussen in die Kälte und wieder zurück ins warme Innere führte, zu schwimmen, wobei sie mit lautem Geschrei ins Wasser sprang und so lange nicht mehr auftauchte, bis hinter ihr jemand in ihren Rücken zu springen drohte.

Mina Hava ist 1998 als Tochter bosnischer Eltern in der Schweiz geboren, genau wie Seka, die titelgebende Heldin ihres Debütromans. Und wenn diese Seka als junge Frau die Geschichte ihrer zerbrochenen Familie rekonstruiert, dann hat sie, die Nachgeborene, auch die Geschichte vom Zerfall Jugoslawiens im Nacken sitzen. Die Kriege. Die Verbrechen und die Entmenschlichung. Omarska.

In der nordbosnischen Bergarbeiter­stadt haben Kämpfer der Republika Srpska 1992 auf einem Minengelände ein Lager errichtet, in dem Menschen zusammengepfercht, gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Das UNHCR und Human Rights Watch gehen von 4000 bis 5000 Toten aus. Über 60 Massengräber sind nach Ende des Krieges in der Gegend entdeckt worden.

Mina Hava schreibt mit «Für Seka» auch gegen das drohende Vergessen dieser Gräuel an. Ihre Heldin sichtet Prozessakten, Medien­berichte, führt Gespräche, gräbt in den Archiven – die Mine wird zum zentralen Motiv einer quasi­archäologischen Erinnerungs­arbeit. Und für Seka wird irgendwann klar: Sie selbst stammt aus einer Familie von Überlebenden und Entkommenen.

Da aber ist die Geschichte von Sekas Familie in der Schweiz längst von einer anderen überschrieben. Einer Geschichte der familiären Gewalt durch den Vater, in der er, der einst Geflüchtete, nun seine Frau und die beiden Kinder in die Flucht vor ihm selbst treibt, quer durch die Schweiz an all die Zufluchtsorte, die er nicht kennen soll. Bis er sie wieder aufgespürt hat und ein erneutes Untertauchen nötig wird.

Was hiess es zu graben?

Den Namen desjenigen zu tragen, den man gemeinhin als «Babo» und später als Monster in Erinnerung behalten hatte.

Es sind schwere Themen, die Mina Hava in ihrem literarischen Debüt verhandelt. Und falls bisher der Eindruck entstanden sein sollte, der Roman habe zwei Erzählstränge, den familiären und den der grossen Geschichte, ist eine doppelte Präzisierung nötig.

Denn erstens geht es in diesem Buch um nicht weniger als ein ganzes junges Leben, weswegen «Für Seka» von einem ganzen Bündel an Sujets erzählt: vom Leben der exjugoslawischen Diaspora in der Schweiz. Von Saisonnier­statut, Schweizer Bauernverband und «Überfremdungs»-Propaganda. Von erster Liebe und Betrug. Von Erinnerungsarbeit und Vergessen. Von Ausschluss und Zugehörigkeit. Von Bildung und Emanzipation. Von Brustkrebs und Therapie. Von Familienbanden und Ehehöllen. Vom Lesen und Schreiben. Von Sprachlosigkeit. Von Erkenntnis und Erkenntnisfallen und von sehr vielem mehr.

Zweitens, und das ist noch wichtiger: Es gibt in diesem Buch keine klassischen Erzählstränge.

«Für Seka» ist vielmehr eine Montage von Bruchstücken, die neben- und gegeneinander gestellt werden und sich häufig gerade nicht zu einfachen Kausalitäten fügen. In zahlreichen Aufzählungen und Listen trägt die Erzählerin Archivfunde und Erinnerungs­fragmente zusammen, ohne sie immer schon chronologisch oder anderweitig zu ordnen.

Erst nach und nach setzen sich im Kopf der Leserin die Bilder zusammen wie Mosaike: Die Lücken, die Bruch- und Nahtstellen verschwinden niemals ganz.

Seka, die Forscherin und archivarische Minen­arbeiterin, hegt ein tief eingelassenes Misstrauen gegenüber einfachen Sinngebungen und Oberflächen­erzählungen – schon allein, weil in der Verkürzung die Gefahr liegt, das historisch Geschehene zu betrachten, als sei es quasinatürlich und zwangsläufig dahin gekommen.

Man würde sich in der Presse darauf einigen, wie man die Kriege auslegte, und von ethnischer Zugehörigkeit sprechen. So erklärte man sich das, was geschah, glaubte zu verstehen, wer wen umbrachte und warum.

Dennoch bleiben es die grossen Fragen, die Seka umtreiben: Was heisst es, wenn Traumata über die Generationen weitergegeben werden? Was hat die grosse Geschichte mit meinem Leben zu tun? Wie schreibt sie sich in mein Leben ein, selbst wenn ich noch gar nicht Teil von ihr war?

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Mina Hava und ihre Romanfigur teilen mehr als das Alter, die Sprachen und eine bosnisch-schweizerische Familiengeschichte.

Zum Beispiel lebt auch Seka eine Zeit lang in Leipzig, wo Hava am Deutschen Literatur­institut studiert hat, oder in Zürich, wo Hava an der ETH in Global­geschichte und Wissenschafts­forschung eingeschrieben war. Wenn die Erzählung zu einer Familien­anekdote anhebt mit den Worten: «Aus dieser Zeit vielleicht folgende Erinnerung: …», dann spricht die Erzählstimme wie eine Autobiografin, und der Unterschied zwischen Hauptfigur, Erzählerin und Autorin verschwimmt für einen Moment. Und wenn in einer Aufzählung von «Namen auf dem Blatt» auch die Namen «Mina» und «Hava» kurz nacheinander folgen, kann man das als spielerische Signatur von Sekas Geschichte lesen.

«Für Seka» ist auch ein Spiel mit Autofiktions­signalen – und der bewussten Abgrenzung davon. Die Erzählweise meidet konsequent das autofiktionale Ich – und doch scheint es, als würde hier jemand in der dritten Person aus dem eigenen Leben erzählen.

Mina Hava weiss zu gut, wie gross im Literaturbetrieb und bei der Leserschaft die Versuchung ist, Romanfiguren mit ihren Autorinnen zu identifizieren – besonders dann, wenn Labels wie «Migrations­literatur» allzu schnell bei der Hand sind. Und sie weiss, dass solche Kurzschlüsse nicht unbedingt zu einem genaueren Blick auf literarische Verfahren und Erzählweisen führen, weil sie gern als Authentizitäts­siegel verstanden werden und die Aufmerksamkeit vom spezifisch Literarischen eher wegführen.

Als ich Mina Hava in einem Zürcher Café zum Gespräch treffe, beugt sie auch gleich vor. Die Figur Seka sei über die Jahre der Buch­entstehung gewachsen. «Aber von ihr auf mich zu schliessen, wäre natürlich falsch.» Natürlich.

«Seka» heisst auf Bosnisch «Schwester». Und vielleicht trifft es die Sache am ehesten, wenn man Seka als literarische Schwester begreift: mit der Autorin eng verbunden, aber doch eher alter als ego.

Als unser Gespräch auf Omarska kommt, wählt Hava eine ihrer typischen vorsichtigen Formulierungen: «Auch da gibt es Überschneidungen zwischen mir und Seka.» Sie habe, sagt Hava, «biografische Anteile in der Region». Dann verweist sie auf den Text. «Omarska ist auch ein Versuch zu verstehen, wie die Dinge im Zusammenhang stehen, und das wird anhand einer Mine versinnbildlicht.»

Vielleicht ist der Schlüsselsatz aus unserem Gespräch einer, der ganz beiläufig fällt: «Das, was ich erzählen will, das steht im Buch.»

Passend dazu wirkt Havas Autorinnen-Website wie eine Zurückweisung aller biografischen Neugier. Lediglich die Lesungs­termine und zwei Symbolbilder sind darauf zu sehen. Das ist ein ziemlich souveräner Move: Hava weiss, dass ihr die autofiktionale Dimension ihres Romans in einem Betrieb, der immer stärker Biografien statt Texte vermarktet, auch hilfreich sein kann. Und dass in der biografischen Erfahrung für die Literatur eine besondere Kraft liegt. Aber sie sendet ebenso diskret wie unmissverständlich die Botschaft: Das ist ein Roman und sollte bitte auch als Literatur gelesen werden.

Seka ist eine andere.

Aus ihrem Roman spricht eine existenzielle Dringlichkeit: Mina Hava.

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Über das Bemerkenswerte an diesem Buch lässt sich nicht sinnvoll sprechen ohne den Blick auf die sprachliche Form.

Mina Hava hat um Seka herum eine Erzählerin geschaffen, die mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt – und doch regelrecht gegen das erzählerische Prinzip anschreibt, es sabotiert, in Collagen aus Absatz­fragmenten kollabieren lässt.

Geradezu programmatisch zertrümmert die Erzählerin gleich zu Beginn den gerade erst sich entfaltenden narrativen Bogen. Stattdessen: Satzlisten. Aufzählen statt Erzählen.

Die für den schweizerischen Nationalstaat irreversible Artikulation eines «Systems» der Gast­arbeiterschaft.

Die japanischen picture brides.

Die mit Kreide an die Wandtafel geschriebenen Worte, erst die Globalisierung schaffe Heimat, erst das Fremde das Eigene. (…)

Die mit dreihundert Kommentaren versehene Todes­anzeige des Grossvaters auf Facebook.

Zahlreiche dieser Listen werden folgen, und es ist an solchen Stellen, als versammelten sie demonstrativ all die Stil­merkmale, die in jedem Creative-Writing-Kurs auf dem Index landen: Substantiv­ballungen, Genitiv­ketten, eine kalte, statische Fachsprache, die scheinbar länger ohne expressives Verb auskommt als ein Kamel ohne Wasser.

Es ist der bürokratische Nominal­stil akademischer Traktate, den Hava hier aufruft. Mit anderen Worten: Das scheinbar antierzählerische Schreiben wird zum Erzählprinzip. Und weil kompromissloses Schreiben immer auch an Punkte vorstösst, wo es sich der völligen Kontrolle entzieht: Vielleicht besteht die Radikalität des Textes auch darin, dieses Verfahren so weit zu treiben, dass über das Buch hinweg nicht in jedem Moment zu hundert Prozent klar ist, was genau jetzt noch als Stilmittel durchgeht; und was sich als Effekt der Recherche in die eigene Sprache einschreibt.

In dem akademischen Protokoll­stil liegt jedenfalls eine doppelte Pointe. Es ist gerade der Ton wissenschaftlicher Distanz, in dem Mina Hava Sekas Verletzlichkeit fassbar macht, weil er als Coping-Strategie lesbar wird, die das Entsetzliche und das Überwältigende ihres Stoffes bändigen soll. Und: Es sind gerade die Listen mit ihrem vermeintlichen Versprechen von Übersicht und Klarheit, die das Gegenteil von erzählerischer Ordnung bewirken, weil sie chronologische Abfolgen und die Logik von Wirkung und Ursache unterminieren.

Dem entspricht auf Handlungs­ebene Sekas Odyssee durch die Schweiz. Jura­südfuss, Bern, La Chaux-de-Fonds, Genf, Berner Oberland – schon auf den ersten Seiten wechselt das Setting in so hohem Tempo, als gelte es, wie gegenüber dem Vater, auch erzählerisch jederzeit weiterziehen zu können.

«Für Seka» ist beides zugleich: eine familiäre Spurensuche. Und ein Buch vom Verwischen der Spuren.

Und wenn es in diesem Buch, das ohne alles Psychologisieren und ohne jede Sentimentalität auskommt, doch so etwas wie ein Psychogramm der Hauptfigur gibt, dann entsteht es aus der Sprach­bewegung selbst.

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Weil dieser Roman zwar eine klare Hauptfigur, aber keine klassisch ordnende Zentral­perspektive kennt; weil er die sukzessive Suchbewegung Sekas nachbildet; und weil die oft hart nebeneinander­gesetzten Erzählpartikel sich nur in einem aktiven Leseprozess sortieren lassen, dauert es seine Zeit, bis sich vor dem Auge der Leserin eine familiäre Vorgeschichte abzeichnet.

Sekas Vater also soll während des Bosnienkriegs eingezogen und ohne Schulung an die Front geschickt werden. Wie sein Bruder desertiert er, flüchtet ins Ausland, findet schliesslich über Umwege in die Schweiz, dort aber nichts, was sich ansatzweise Heimat nennen könnte. Sein Asylgesuch endet mit einem Wegweisungs­bescheid. Im Freibad fragt er eine Frau nach Feuer, die ihm zu seinem Erstaunen auf Bosnisch antwortet – endlich ein vertrauter Klang. So lernt Sekas Vater Sekas Mutter kennen. Die beiden verlieben sich und heiraten rasch, damit er bleiben kann.

Später dann die Gewalt, deren Ursprünge der Roman weitgehend im Dunkeln lässt. Es beginnt mit Schlägen im Badezimmer. Wenn der Vater die Mutter verprügelt, hält Seka ihrem Bruder die Ohren zu.

Nach einem Familien­drama um Sekas Cousin reicht die Mutter endlich die Scheidung ein. Es folgen Drohungen, noch mehr Gewalt, bis die Mutter mit den Kindern untertaucht, unzählige Male neu, weil der Vater die Familie verfolgt, tyrannisiert, der Mutter droht, sie umzubringen. Mit 17 beantragt Seka eine Namens­änderung, geht schliesslich zum Studium nach Deutschland und nimmt weiterhin keine Anrufe von unbekannten Nummern an.

Als der Vater später einmal ihrem Bruder einen Umschlag mit der Aufschrift «Za Seku», «Für Seka», mitgibt, «ohne Worte, kein Brief», nur Bilder darin von ihr als Kind, fällt in Sekas Erzählung der Satz:

Plötzlich diese Hoffnung, er könne sich umbringen.

Der Satz ist ein Echo. Weiter vorne hatte es bereits geheissen:

Die Fragen, was das Kriegsverbrecher­tribunal in Den Haag an den Tag brachte, welche Verurteilten beim Verlesen des Urteils Gift schluckten und starben, welche Verpflichtung den Genoziden, den Vergewaltigungen an Frauen und dem Tod vieler Männer entgegen­gebracht werden müsste, unter denen sich um ein Haar auch ihr Vater befunden hätte, wäre er nicht rechtzeitig mit seinem Bruder gegangen, ermüdeten sie. Ihr wäre es lieber gewesen, er wäre gestorben.

Die Sätze formulieren eine Ungeheuerlichkeit. Isoliert betrachtet, könnten sie nichts als Empörung hervorrufen. Doch wer würde in Sekas Geschichte über ihre Gedanken richten wollen?

Es ist einer der Punkte, an denen die individuelle, die familiäre und die grosse allgemeine Geschichte nur bedingt zur Deckung kommen. Und einer der Punkte, an denen Literatur auf der Komplexität von Lebens­geschichten beharrt, während die Protagonisten in Kriegs­reportagen oder wissenschaftlichen Sachtexten erzählerisch oft nur eine exemplarische Funktion zu erfüllen haben: die grossen historischen Linien zu personifizieren.

Auch dies macht Mina Havas Roman auf radikale Weise sichtbar.

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Natürlich liegen in Havas literarischem Verfahren auch Risiken. Weil das Prinzip der Aufzählung problemlos Quer­verweise, kultur­historische Referenzen und biografische Anekdoten aufnehmen kann, lassen sich die Listen im Grunde beliebig verlängern. Nicht immer tut das der Erzähl­ökonomie gut. Und weil Leitmotive wie die Mine und das Graben auch das Disparate bündeln müssen, werden sie stellenweise auch mal überstrapaziert.

Aber für den grundlegenden Eindruck, dass da eine junge Debütantin bereits mit grosser erzählerischer und theorie­gewandter Souveränität über einen hochkomplexen Stoff verfügt, fällt das kaum ins Gewicht.

Wie konsequent Hava hier dem Erzählen eine widerständige Form findet, wie sie dem marktgängig-konsumistischen Literatur­verständnis eine Absage erteilt, ohne sich in unzugänglicher Verrätselung zu gefallen, macht «Für Seka» zu einem der bemerkenswerten Debütromane der Saison.

Und so referenzenreich der Roman in die moderne und die jüngere Zeitgeschichte ausgreift: Literarische und wissenschaftliche Verweise sind hier weder Manier noch Bildungs­huberei; Seka liest und schreibt vielmehr um ihr eigenes Leben. Sie findet Halt in Büchern, Listen und einem Bildungsschatz, der für sie, die Enkelin einer Analphabetin, nicht weniger bedeutet als Empowerment.

So spricht aus Mina Havas Roman eine existenzielle Dringlichkeit – und zugleich verweigert er sich jedem plumpen Biografismus, auch und gerade durch seinen nachdrücklich literarischen Charakter und seine Selbstverortung in einem literarischen Chor.

«Für Seka» ist ein Buch voller Zitate und Verweise: auf Anne Carson, Dubravka Ugrešić, W. G. Sebald, Helga M. Novak, Hélène Cixous, Virginia Woolf und unzählige mehr. Mina Hava schreibt sich ein in eine literarische Wahl­verwandtschaft. Ihr Roman ist auch ein Text über Texte, er erzählt auch eine Lesebiografie – und bildet darin eine eigene literarische Handschrift aus.

Am Wochenende liest Mina Hava übrigens bei den Literaturtagen in Solothurn. Für eine starke neue Stimme der Schweizer Literatur ist das genau der richtige Ort.

Zum Buch

Mina Hava: «Für Seka». Roman. Suhrkamp, Berlin 2023. 278 Seiten, ca. 34 Franken.